Aus dem Badezimmerspiegel blickt mir eine
Lazarett- Krankenschwester, die aus einem Film über den zweiten Weltkrieg
entsprungen scheint, entgegen. Sie trägt ein knielanges weißes Kleid mit einer
in der Taille gebundenen Schürze, die Haube nicht zu vergessen. Diese
Krankenschwester bin ich. Seit ich das erste Mal zur Untersuchung ins Shisong
Hospital kam, habe ich die Schwestern um ihre schönen Uniformen beneidet und
bin daher recht stolz, dass ich nun auch im Besitz einer solchen bin. Es ist
halb sieben. Um sieben trete ich meine erste Schicht auf der Kinderstation an.
Ein bisschen aufgeregt bin ich natürlich schon. Diese Aufregung verfliegt
jedoch sofort, als ich das Schwesternzimmer betrete und herzlichst in Empfang
genommen werde. Sogleich erhalte ich eine Führung durch die gesamte Station und
schon wird mir meine erste Aufgabe zugeteilt: die trockenen Laken und
Kopfkissen aus der Wäscherei holen. Unterwegs dorthin werden Belinda, eine
nette Schwesternschülerin, und ich alle zehn Schritte angehalten, da jeder die
neue weiße Schwester in ihrer wie angegossen sitzenden Uniform begrüßen möchte.
Obwohl ich jedes Mal betone, dass sie doch haargenau so ist, wie die Anderen
auch, sind sich alle einig, dass sie mir besonders gut steht. Einerseits finde
ich es wirklich lieb und goldig von den Schwestern, andererseits tut es mir
ziemlich leid für Belinda, die die gesamte Zeit neben mir warten muss.
Wieder auf der Station lerne ich, wie ich die
Betten der entlassenen Patienten desinfiziere und neu beziehe. Eine Lektion,
die man hier wirklich lernt: Zusammen ist man weniger allein. Das Laken alleine
um die Matratze zu knoten und anschließend die diversen Überdecken in
verschiedenen Falttechniken anzuordnen wäre ziemlich kompliziert. Schnell sind
Belinda und ich uns vertraut und wir verstehen uns auf Anhieb super. Nach dem
Bettenmachen gehe ich auf meinen ersten Rundgang: Überprüfung der
Vitalfunktionen. Ich werde direkt eingebunden und darf Fieber messen. Ich bin
nur elektronische Thermometer gewöhnt und muss dadurch erst einmal mit dem
„Zurückschütteln“ des Quecksilbers kämpfen. Nach dem dritten Mal habe ich es
jedoch heraus und habe vorher viel zu großen Aufwand betrieben, wie ich
feststelle. Da wir nicht im Schwesternzimmer stehen sollen, wenn es nichts zu
tun gibt, gehen wir durch die verschiedenen Zimmer und unterhalten uns mit den
kleinen Patienten oder ihren Eltern.
Viel zu schnell ist die erste Schicht vorbei
und ich bin einerseits ziemlich geschafft vom siebenstündigen Stehen
andererseits überglücklich. Es war wirklich toll!
Als ich das Schwesternzimmer am nächsten
Morgen betrete, ist die Stimmung gedämpft. Eines der Frühchen aus Zimmer vier
musste an die Sauerstoffversorgung angeschlossen werden. Dr. Olga, die
Kinderärztin aus der Ukraine, welche hier schon zwölf Jahre arbeitet, sagt
jedoch, es bestehe kein Grund zu größerer Sorge. Also steigen wir in unsere
Tagesroutine ein: Patienten besuchen, Bettenmachen und desinfizieren,
Vital-Signs Check und mit den Patienten ins Gespräch kommen.
Um zwölf ist es Zeit für die Medikamente und
heute darf auch ich den kleinen Patienten und Patientinnen ihre Medizin
bringen. Die meisten sind wegen Malaria hier und sie bekommen zusätzlich zum
Tropf Medikamente zur schnelleren Genesung.
Kurz vor Ende meiner Schicht bringt eine junge
Mutter, vielleicht in meinem Alter, ihren zwei Wochen alten Sohn ins
Schwesternzimmer. Als sie das Deckchen, in das er gewickelt ist, zurückschlägt,
bin ich das erste Mal wirklich geschockt: Von dem Kleinen sind nicht viel mehr
als Haare, Haut und Knochen zu sehen. Es sieht aus wie ein Baby aus einer
Spendenwerbung in Fernsehn. Es atmet röchelnd und ist trotz der dunklen
Hautfarbe leicht bläulich. Die Mutter scheint mit der Situation schlicht
überfordert zu sein. Auch dieser kleine Patient wird direkt an Tropf und
Sauerstoff angeschlossen. Der Blutzuckerspiegel, den ich ganz allein messen
durfte, versetzt uns einen weiteren Schock: 539. Der Normalwert liegt zwischen
90 und 120, weswegen wirklich aller Grund zur Sorge besteht. Da meine Schicht
schon sein einer halben Stunde vorüber ist, werde ich dankbar darüber, dass ich
länger geblieben bin, nach Hause geschickt.
Als mein Wecker am folgenden Tag klingelt,
springe ich aus dem Bett und bin sogar schon vor Schichtbeginn auf Station. Die
Situation des Frühchens hat sich verbessert, aber die des kleinen Jungen hat sich dramatisch
verschlechtert. Während der Nachtschicht
hat er angefangen aus jeglichen Körperöffnungen geronnenes Blut und Flüssigkeit
zu verlieren. Auch der Blutzuckerwert ist kaum verändert. Heute bin ich mit der
Stationsschwester, Cornelius, dem einzigen Pfleger, und einer weiteren
Schwester alleine, da die Schwesternschüler und Schülerinnen ihren Schultag
haben. Ich begebe mich also mit Cornelius alleine in die Wäscherei und auf die
Zimmer.
Als wir um kurz vor elf fertig sind und ins
Schwesternzimmer kommen, röchelt das Baby sehr stark. Trotz
Sauerstoffversorgung fällt es ihm sichtlich schwer zu atmen und es spuckt immer
wieder schwarzbraune Flüssigkeit. Plötzlich geht alles ganz schnell.
Stationsschwester Brunhilda hechtet zum Medikamentenwagen und fischt nach einem
Medikamentendöschen, füllt es mit Wasser und gießt dieses dem Baby über die
Stirn. In ihrer Geistesgegenwaertigkeit tauft sie das Kleine. Das Baby atmet
noch einmal. Dann ist es still im Raum. Der Brustkorb bewegt sich nicht mehr.
Wir rufen nach Doktor Olga, die sofort versucht es zu reanimieren. Aber es ist
zu spät.
Es ist elf Uhr elf. Vor meinen Augen ist
gerade ein Baby gestorben. Und ich konnte nichts dagegen unternehmen.
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